«Ich will eine Kerze machen!»

Neulich sass ich während der Arbeit in einer Nische am Laptop, um das Wichtigste des Morgens einzutragen. Da kam eine mir unbekannte Frau am Rollator auf mich zu und erklärte: «Ich will eine Kerze machen.» Sie zeigte mit der Hand auf den Boden. Ich fragte vorsichtig: «Sind Sie sicher? Der Boden hier ist sehr hart, schauen Sie sich die Platten an.» Sie erwiderte: «Macht nichts.» Dann liess sie mit einer Hand den Rollator los und deutete mir damit an, dass ich sie auf dem Weg zum Boden unterstützen solle. Ich hatte keine andere Wahl, als mich auf ihre Aufforderung einzulassen.

Die Bewohnerin wusste genau, wie sie den Weg auf den Boden gestalten konnte. Unten angekommen, legte sie sich auf den Rücken und wollte die Beine in die Höhe bringen. Mit ihren Händen versuchte sie das Becken in die Höhe zu stossen, was nicht gelang. Ich machte ihr an den Fersen ein Angebot, um sich hochzudrücken, aber es funktionierte auf keine Weise. Da ich selbst schon lange keine Kerze mehr gemacht und vergessen hatte, wie es geht, teilte ich der Dame mit: «Ich muss schnell selbst eine Kerze machen, denn ich habe das schon lange nicht mehr gemacht und weiss gerade nicht, wie ich Sie unterstützen kann, damit Ihnen die Kerze gelingt.»

Also legte ich mich neben sie auf den Boden und machte eine Kerze. Zum Glück fiel mir während des Tuns von selbst ein, welche Bewegungen ich machen muss, um diese Bodenturnfigur hinzukriegen. Beim Selbertun konnte ich mir einen Plan zurechtlegen, wie meine Unterstützung aussehen könnte. Und so hat die Bewohnerin die Kerze beim nächsten gemeinsamen Versuch tatsächlich geschafft. Auf unseren beiden Gesichtern breitete sich ein freudiges Lächeln aus.

Der Weg von der Rückenlage ins Sitzen auf einen Stuhl hat uns beide etwas mehr gefordert, denn unsere Erschöpfung und der harte Boden verlangten uns nun einiges an Kreativität ab. Zum Glück standen ein stabiler Stuhl und ein Katzenkorb aus weichem Material in der Nähe bereit, und so gelang uns auch der Weg auf den Stuhl.

Im Nachhinein habe ich erfahren, dass die Dame bereits neunzig Jahre alt ist, früher als Kinderkrankenschwester gearbeitet hatte und lange im Turnverein aktiv war.

Alexandra Schildknecht