Eine Geschichte aus dem Emmental
Als Spitexfachfrau betreute ich über längere Zeit eine Frau mit amyotropher Lateralsklerose (ALS) im Endstadium. Sie war kognitiv völlig klar, präsent und verfügte über einen sehr feinen Humor. Ihr Ehemann, der wie sie um die 72 Jahre alt war, begleitete und betreute sie zu Hause mit Spitexunterstützung liebevoll, geduldig und fast unermüdlich. Viele von uns Fachfrauen und -männer fühlten uns bei der Familie jeweils fast «wie daheim». Wir spürten ein sehr grosses Vertrauen, das uns die beiden entgegenbrachten, und so kam es bei der doch aufwändigen Pflege immer mal wieder zu persönlichen Gesprächen. Die Frau erzählte offen, dass es für sie sehr schwer sei, sich nun bei den einfachsten Aktivitäten des täglichen Lebens von jeweils wildfremden Menschen helfen lassen zu müssen.
Als ich nach einem freien Wochenende zu ihr kam, fragte sie mich: «So, heit dir äs schöns Wucheändi gha mit öine Liebä?» Ich bejahte und erzählte ihr, dass wir mit unserem Auto, einem VW Caddy, im Emmental campieren waren. Das letzte Auto der Patientin ist ebenfalls ein umgebauter, rollstuhltauglicher VW Caddy gewesen, den sie, schweren Herzens, wegen ihrer zunehmenden Immobilität verkaufen musste.
Weiter erzählte ich ihr, dass ich in der Emme an einem wunderschönen Naturbadeplatz gebadet habe. Sie sah mich daraufhin lange an. Dann fragte sie mich mit einem verschmitzten Lächeln: «U de, ir schöne Natur? Heit dir ir ‹Adamsrobe› (schweizerdeutscher Ausdruck für Nacktbaden) badet?» Ich war vor Erstaunen über ihre Direktheit einfach nur sprachlos und tief berührt. Schliesslich mussten wir beide herzlich lachen und erklärten später auch noch dem Ehemann, was wir denn gerade so zu kichern hatten.
Wenn es dann bei späteren Besuchen jeweils darum ging, welche Kleider wir ihr anziehen sollten, kam die «Adamsrobe» immer wieder als Vorschlag ins Gespräch. Sie lebte bis drei Tage vor ihrem Tod in ihrem geliebten Haus an der Emme.
Annemarie Berger-Straub